Was wir als schön oder harmonisch empfinden, findet seine Entsprechung oftmals in vergleichsweise einfachen mathematischen Zusammenhängen. Bei der Betrachtung von Blütenständen ahnen wir vielleicht, dass hier Symmetrien verborgen sind, die wir zunächst nicht ausdrücken können. Beim Hören von Musik empfinden wir möglicherweise Ordnungen, ohne sie beschreiben zu können.

Dennoch sind wir überzeugt, dass dieses intuitiv Erfasste wirklich ist. Wir vermuten oftmals eine große Komplexität hinter solchen Phänomenen, vielleicht sogar Göttliches.

Die scheinbar ewigen Wahrheiten von Symmetrie, Balance und Ordnung-sind sie nicht Spuren eines höheren Weltgeistes?  Müssen sie nicht ästhetisch sein?

Geometrische Betrachtungen wie sie bei der Ausführung des Goldenen Schnitts schon in der Antike angestellt wurden, wurden in der Renaissance wiederentdeckt und als ästhetisches Konzept verwirklicht.

So beschreibt der vielgenannte Goldene Schnitt die Teilung einer Strecke dergestalt, dass das Verhältniss von größerem Teilstück zu kleinerem Teilstück nun genau demjenigen der ursprünglichen Gesamtstrecke zum größeren Teilstück entspricht.

Anders ausgedrückt: (a+b)/a = a/b, wobei a das größere und b das kleinere Teilstück sei.

Dass diesem Verhältnis von Teilstrecken eine besondere Balance innewohnt, haben Menschen wohl stets gespürt. Welche Begeisterungen mag es ausgelöst haben, als klar wurde, dass sich diese Balance in einer einfachen Gleichung ausdrücken lässt?

Die Hoffnung, dass sich etliche der komplexen Formen in der Natur möglicherweise mithilfe der Mathematik beschreiben und vorhersagen lassen, hat Wissenschaftler, Philosophen und Künstler inspiriert, Formeln zu suchen, die die Phänomene möglichst elegant beschreiben.

So erkannte man spätestens im 18. Jahrhundert beispielsweise, dass die Blätter oder Samen vieler Pflanzen um den Stängel regelmäßig in Winkeln angeordnet sind, die sich in ihrem Verhältnis zum Vollkreis dem goldenen Schnitt nähern. Das führt in der Folge wiederum häufig dazu, dass  gegenläufige Spiralen entstehen, zum Beispiel bei Tannenzapfen, Ananas oder Sonnenblumen. Die Anzahl dieser Spiralen sei jedoch, so z.B. der Botaniker Charles Bonnet (1720-1793) nicht zufällig, sondern entspräche Zahlenwerten aus der eigenartigen Zahlenfolge 1,1,2,3,5,8,13,21,34,55,89…

Beim ersten Betrachten mögen diese Zahlen, außer der Tatsache, dass die Zahlenwerte scheinbar unregelmäßig aber stetig  zunehmen, keinem einfachen Gesetz folgen. Ein zweiter Blick offenbart jedoch schnell, dass jede weitere Zahl nichts anderes als die Summe der zwei vorhergehenden Zahlen darstellt.

Diese eigenartig schöne Zahlenfolge wurde nach dem frühmittelalterlichen italienischen Mathematiker Leonardo da Pisa, gen. Fibonacci benannt, der deren Praktikabilität auch an einem anschaulichen Beispiel, nämlich bei der Vorhersage der Vermehrung von Kaninchen, demonstrierte.

Die Zahlen der Fibonacci-Folge begegnen uns in der Natur scheinbar häufig, so beträgt die Anzahl der Blütenblätter von Gänseblümchen, wenn man verschiedenen Quellen glauben mag, oftmals 21, 34 oder 55.

Der hohe ästhetische Gehalt solcher Zusammenhänge ist offenbar, was die zu weniger rationalen Erklärungen neigenden Menschen auch noch heute motiviert, „Geist“, „Intelligenz“ oder „Gott“ ins Spiel zu bringen. Man mag das nachvollziehen, aber wie würden naheliegendere wissenschaftliche Methoden sich derartigen Phänomenen nähern?

Zunächst mit einer gesunden Portion Skepsis. Zahlreiche Veröffentlichungen, sei es in Büchern oder auf Internet-Seiten legen den Verdacht nahe, dass wir die Schönheit des Gedankens gerne höher halten, als das einfache Hinschauen.

So gibt es jede Menge Blumen mit einer Anzahl an Blütenblättern, die keine Fibonacci-Zahlen sind. Genauso sind die häufig zitierten Nautilus-Muscheln, Schnecken usw. meist keine idealen „Goldenen Spiralen“. Rechtecke, die nach dem goldenen Schnitt konstruiert werden und die, so legen es bestimmte Studien aus dem 19. Jahrhundert nahe, von Menschen z.B. bei der Wahl anderen Rechtecken vorgezogen werden, tauchen mitnichten in all unseren „Alltagsrechtecken“ wie Computermonitor, Filmformaten, Briefpapier etc. auf.

Aber selbst wenn es so wäre, wäre dies ein Beleg für „höhere“ Harmonien oder gar geistige Kräfte, die die Natur formen?

Natürliche Erklärungen, also solche, die ausschliesslich bereits bekannte Kräfte berücksichtigen, reichen aus, um das Vorkommen von Symmetrien und komplexen Formen plausibel zu machen. Das freut die Esoteriker unter uns weniger als solche Menschen, denen Ockhams lex parsimoniae in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Es ist im Falle der Blütenblätter zum Beispiel viel wahrscheinlicher, dass sich Fibonacci-Zahlen bei Blumen daraus ergeben, dass die Genese eines neuen Blütenblatt-Kranzes immer nur auf der Basis der vorherigen 2 Kränze geschieht.  Ein solcher biologischer Algorithmus, der aus  nur wenigen Notwendigkeiten ableitbar wäre, entspräche damit der analogen Anweisung, die auch zur Bildung der Fibonacci-Folge führt.

Es gibt also bei der Blütenentstehung vermutlich Rückkopplungsprozesse, die eine bestimmte Blütenblattanzahl erzwingen, anstatt jede beliebige Zahl zuzulassen.

Der wenn auch naheliegende Denkfehler besteht nun darin, solchen Phänomenen eine Bedeutung jenseits ihrer Funktionalität zuordnen zu wollen.

In jedem Fall darf die pflanzenanatomische und molekularbiologische Aufklärung dieser biologischen Phänomene gelassen abgewartet werden.

Zurück aber zum Goldenen Schnitt: In welchem Zusammenhang steht er mathematisch nun mit Fibonaccis Zahlenfolge? Schon Johannes Kepler (1571-1630) konnte zeigen, dass sich der Quotient zweier benachbarter Fibonacci-Zahlen dem Verhältnis des goldenen Schnitts, nämlich (1+√5)/2 annähert und zwar umso mehr, je größer die Fibonacci-Zahlen werden.

Kein Wunder also, dass seitdem die Bedeutungssucher und Harmoniefreunde unter den Menschen den Goldenen Schnitt überall am Werk sehen wollen. Dabei wird oft vergessen, dass es die Natur mit Ihrer Vorliebe für Ungenaues, Verschwendung und gerade noch Mögliches ist, die die Formen bestimmt und nicht der Mensch mit seinem Hang zu mathematischen Idealen und einfacher Harmonie.

Insofern beschreiben wir hier das mindestens ebenso interessante Phänomen, dass wir Ordnungen sehen wollen, wo vielleicht gar keine oder weitaus weniger perfekte am Werk sind. Wir selektionieren gerne positiv, was in unser Weltbild passt und schenken dem, was sich nicht einfügt, weniger Aufmerksamkeit.

Eine interessante Übung wäre beispielsweise, mal eine Stunde damit zu verbringen, die Blütenblätter von mindestens 100 Gänseblümchen zu zählen: Gibt es tatsächlich eine Häufung von Fibonacci-Zahlen? Und falls ja: Wie stark ist die Streuung? Folgen die Schneckengehäuse, die wir finden, wirklich häufig der goldenen Spirale?

Müssen wir enttäuscht sein, wenn sich die biologische Natur, anders als manche physikalische Phänomene, mathematischen Ausdrücken nur widerwillig nähert?

Ist es nicht ein nobler Gedanke, dass wir mithilfe der Mathematik die Natur in vielem hervorragend beschreiben und ihr Verhalten prognostizieren können, und uns doch vor der Gefahr hüten dürfen, das Idealisieren der verborgenen Zusammenhänge dem empirisch motivierten Hinschauen vorzuziehen?